Alternative Welten: Unterwegs im Paralleluniversum Fediverse

Alternative Welten: Unterwegs im Paralleluniversum Fediverse

Es war nicht Elon Musk, der seine Hände nach Twitter ausgestreckt hatte, oder jener Twitterer, der es sich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, mich über die Lebensgefahren der Elektromobilität aufzuklären.

Es war auch nicht das wissenschaftsfeindliche Pack, das auf YouTube unter einem neuen Video von Mailab seine selbstgewählte Blödheit dokumentiert hatte.

Es war nicht einmal Ex-Bildchef Julian Reichelt mit seiner Wortschöpfung „Zwangsmaus“ – dem Wörtchen kann man ja in Kenntnis seiner Laufbahn zumindest eine gewisse Mehrdeutigkeit abringen. Übrigens: Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass der gute Mann abgekürzt JR heißt? Wie der schlimmste Schurke meiner Kindheit, samt ähnlicher Affinität zu fossilen Brennstoffen, nur mit erheblich schlechterem Stil.

Ach, egal, vielleicht waren es auch alle zusammen, und noch ein paar mehr, die mich jenes denkwürdigen Tages dazu brachten, mir die Frage zu stellen, ob es das jetzt gewesen sei mit dem Internet, oder ob es jenseits dieser bunten, lauten, zerstrittenen Welt nicht noch etwas anderes gebe, vielleicht ein anderes Internet, nur weniger voll, weniger aggressiv, weniger marktschreierisch.

Twitters Alternative im Fediverse ist ein Rüsseltier aus der Urzeit

Und dann hörte ich von der Alternative Fediverse. Das begegnete mir als erstes in Gestalt eines urzeitlichen Rüsseltiers namens Mastodon. Schon verwirrt? Keine Sorge, das wird schon noch schlimmer. Also: Das Fediverse heißt so wegen seiner föderalen (englisch „federal“) Struktur miteinander verbundener Instanzen. Mastodon selbst ist keine Instanz, sondern ein dezentrales soziales Netzwerk, das in der Handhabung und Anmutung an Twitter erinnert. Bloß ohne Elon Musk und Julian Reichelt. Außerdem wird hier nicht gezwitschert, der Mastodon-Bewohner trötet seine Botschaft in die Welt. Beziehungsweise erst einmal in seine Heimat-Instanz, die aber mit allen anderen Instanzen verbunden ist.

Dezentral meint: Ich kann ein Konto bei irgendeiner der Instanzen dieses sozialen Netzwerks erstellen (auf Mastodon bin ich über die Instanz https://social.tchncs.de zu erreichen, konkret über https://social.tchncs.de/@technischgesehen). Von einer Instanz aus kann ich aber nahtlos mit den Nutzern aller anderen Instanzen plaudern, wenn ich will. Dazu kann ich von der lokalen zu einer föderierten Zeitleiste wechseln. Muss ich aber natürlich nicht.

Im Augenblick fühlt sich Mastodon an wie ein Twitter, dem irgendwer den Zynismus, den Konfrontations- und Zerstörungswillen entzogen hat. Hätte ich vorher versucht, mir Twitter ohne diese Attribute vorzustellen, wäre da bloß ein großes, unförmiges Nichts gewesen. Aber da ist nicht nichts: Mastodon hat seine eigene Schönheit – die extrem viel stillere unmittelbare Umgebung auf dem ausgewählten Server, und die immer noch recht ruhige föderierte Zeitleiste. Als sei ich aus einem der schlechteren Viertel Berlins an den Rand einer Kleinstadt in Ostwestfalen-Lippe gezogen.

YouTubes Alternative im Fediverse – auch eine Heimat für Nervensägen

Eine Regierung aus Echsenmenschen, Alien-Spinneneier in Covid-19-Impfstoffen – Gestalten, die voller Sendungsbewusstsein derartigen Schwachsinn verbreiten, blockte ich mir einst auf Twitter mit nur mäßigem Erfolg vom Halse. Auf Mastodon bin ich davon bislang verschont geblieben. Aber föderale Systeme sind naturgemäß ziemlich heterogen. Die schrägsten Vögel (oder Mammuts?) scheinen allerdings nicht zu tröten, sondern ihre Botschaften präferiert per Bewegtbild zu verbreiten. PeerTube heißt die föderale Alternative zu Googles ultrakommerzieller Videosammlung. Wie bei Mastodon gehören zu PeerTube etliche lose miteinander verbundene Instanzen, und wer will, kann mit wenig technischen Kenntnissen auch eine eigene aufsetzen.

PeerTube zieht leider auch Verschwörungspraktiker an, weil jede Instanz ihre eigenen Regeln im Umgang mit hirnerweichenden Inhalten hat, und den meisten Betreibern der Instanzen der Löschknopf längst nicht so locker sitzt wie den Verantwortlichen der zentralisierten Videoplattform YouTube.

Was PeerTube aber auch nicht hat, ist ein Algorithmus, der mich immer tiefer in den Kaninchenbau zerrt, wenn ich aus Versehen einmal auf eines der besagten Videos geklickt habe. Den vermisse ich ebenso wenig wie die überbordende Werbung, mit der YouTube die Zuschauer inzwischen zuschüttet. Wer ab und zu ein Mountainbike-Video von mir sehen will: Auf https://tube.tchncs.de/a/oldmanriding/video-channels habe ich mir einen kleinen Kanal angelegt.

Die genannte Instanz scheint mir bislang noch spinnerfrei zu sein. Leider kann ich auch sicher sein: Meine Lieblings-YouTuber wird’s nicht so bald hierhin verschlagen. Ebenso wenig wie meine Lieblings-Twitterer sich in größerer Zahl mit dem Mastodon anfreunden werden. Aber was soll’s, wenn mir nach „Lautsprecher“ ist, kann ich ja jederzeit wieder zurück. Es ist eine Sache, in einer lauten, versifften, heruntergekommenen Stadt zu leben, und eine andere, von Zeit zu Zeit dort als Besucher aufzutauchen, weil es nur dort diesen einen Dönerladen gibt. Und wenn dann JR um die Ecke kommt, geh‘ ich halt wieder.