Arbeiten in vollen Zügen: Gesichter einer Hassliebe

Arbeiten in vollen Zügen: Gesichter einer Hassliebe

Als ich um viertel nach sechs das Haus verlasse, sind es noch mehr als zwei Stunden, bis ich mit dem Unterricht beginnen kann. Eine Zeit lang habe ich versucht, die erste halbe Stunde auf dem Weg zum Bahnhof produktiv zu nutzen, etwa mit Hörbüchern oder Podcasts. Aber um diese frühe Zeit verlangt mir das Autofahren noch so viel Konzentration ab, dass von den gehörten Inhalten immer nur Bruchstücke hängen bleiben. Heute berieselt mich deshalb Radio Lippe, bis ich den Smart in die äußerste rechte der Parkbuchten direkt gegenüber dem Bahnsteig rollen lasse und den Motor abstelle. Die regionale Bahnlinie nutze ich von hier an als Transportmittel und Arbeitsplatz gleichermaßen – mit variierenden Erfolgen auf beiden Gebieten.

Wie meist, bin ich auch heute fünf Minuten zu früh da. Zwei Frauen und ein Mann warten am Bahnsteig. Ich bleibe noch im Wagen – zum einen, weil sich der wartende Mann in eine Nikotinwolke hüllt. Hauptsächlich aber, um mit meinem Smartphone und der App Duolingo noch etwas Spanisch zu lernen. Fünf Minuten sind dafür keine lange Zeit, aber auch kleine Schritte führen irgendwann zum Ziel.

Zuverlässigkeit und Service – äh, na ja

„Sehr geehrte Fahrgäste“, leitet sich der Sprecher ein, dessen Stimme aus den Lautsprechern am Bahnhof ertönt. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie er jetzt fortfahren kann. Sagt er „Es fährt ein…“, ist alles, wie es sein soll. Sagt er „Aus betrieblichen Gründen“, dann hat er erneut zwei Möglichkeiten. Mit etwas Glück sagt er dann „verspätet sich…“, wenn es schlecht läuft, beginnt er die Fortsetzung mit „entfällt…“. Heute kündigt er eine Verspätung von „circa fünf Minuten“ an. Ich habe auch schon erlebt, wie er seine Ansage im Laufe einer Viertelstunde von „verspätet sich um circa fünf Minuten“ zu „entfällt“ eskaliert hat. Heute läuft es besser: Noch bevor die versprochenen fünf Minuten ganz vorbei sind, rollt der in Weiß und Gelb gestrichene Zug am Bahnsteig ein. Ein schnauzbärtiger Fahrgast in Polizeiuniform steigt aus, gefolgt von einer mürrisch blickenden blonden Frau.

Ich steige ein und gehe zu meinem Stammplatz, einem Fensterplatz in Fahrtrichtung links, etwa in der Mitte des Wagens. Auf der Fensterseite ist ein kleiner Mülleimer angebracht, dessen hölzerne Abdeckung als Tisch dient. Ich starte die Hotspot-Funktion an meinem Smartphone, lege es auf den kleinen Tisch und ziehe mein Notebook aus der Tasche.

„Guten Morgen! Einmal die Fahrscheine bitte!“ – die Stimme gehört einer brünetten, kräftigen Frau in den Vierzigern, deren Uniform sie unzweideutig als Mitarbeiterin der Bahnlinie ausweist. Sie gehört zum Stammpersonal, wie ich zu den Stamm-Fahrgästen gehöre, wir haben uns in den letzten zwei Jahren fast jede Woche ein, zwei Mal gesehen. Sie mustert mein Abo-Ticket, sieht mich an und sagt „Ich muss mal Ihren Personalausweis sehen.“ Ich friemele das gewünschte Dokument aus dem Innenfach meiner Geldbörse. Ihre Blicke wandern zwischen Ticket, Ausweis und meinem Gesicht hin und her, bis sie endlich zufrieden nickt und sich anderen Fahrgästen widmet.

Arbeit mit Hindernissen

Einen Beitrag zu „Einsatzmöglichkeiten für Virtual Reality im geschäftlichen Kontext“ wünscht sich ein Auftraggeber. In den letzten Tagen habe ich Fallbeispiele, Pressemitteilungen und Expertenkommentare gesammelt, und inzwischen einen, wie ich meine, recht guten Überblick über das Thema. Ich klappe mein Notebook auf, starte die Textverarbeitung und beginne, einen ersten Absatz zu schreiben.

„Nächster Halt: Lage!“ verkündet eine Männerstimme aus dem Zuglautsprecher, kurz bevor der Zug an einem Bahnsteig zu stehen kommt. Hier hat der Zug um diese Zeit eine Viertelstunde Aufenthalt (nach Abzug der Anfangsverspätung bleiben davon heute noch zehn Minuten), und wenn es gut läuft, komme ich unterdessen derart in Fahrt, dass die Rohfassung meines Beitrags fertig ist, wenn ich vierzig Minuten später in Bielefeld aus dem Zug steige.

„Planmäßige Weiterfahrt sieben Uhr – ääääh – siebzehn“, ist aus dem Zuglautsprecher zu hören. Der Mann vom Ausgangsbahnhof ist ausgestiegen und steht jetzt, den Blick in die Ferne gerichtet, vor dem Zugfenster, wo er sich erneut in eine Nikotinwolke hüllt. Ich versuche, in den Tunnelblick-Modus zu gelangen, starre auf meine Tastatur und denke über einen möglichst interessanten Einstieg in meinen Beitrag nach. Ich kenne Kollegen, die sich erst ganz zuletzt um den Einstieg kümmern, aber für mich hat das nie funktioniert. Endlich meine ich, einen brauchbaren ersten Satz gefunden zu haben, und lege gerade meine Finger auf die Tasten, da erscheinen zwei junge Frauen, die sich auf die beiden freien Plätze mir gegenüber setzen, und ein Mann in den frühen Zwanzigern, dessen Körperfülle der meinen mindestens ebenbürtig ist, und der sich neben mich zwängt.

Mit an den Körper angelegtem rechten Arm beginne ich mit dem Schreiben, aber die Formulierungen verschwimmen auf dem Weg vom Gehirn in die Finger, und als der erste Absatz endlich Gestalt angenommen hat, weiß ich, da muss ich noch mal ran. Aber die innere Handbremse ist gelöst, nach und nach können jetzt weitere Sätze, Gedanken, Absätze folgen.

Der Mann neben mir ruckelt auf seinem Sitz vor und zurück. Zuerst vermute ich, er sei auf der Suche nach dem optimalen Kontakt zwischen Körper und Sitz, aber als er die Ruckelei in unregelmäßigen, kurzen Abständen wiederholt, wird eine Marotte wahrscheinlicher. Vermutlich ruckelt er auch, wenn er auf seiner Couch vor dem Fernseher sitzt. „Als Sozius auf einem Motorrad wäre er ein Sicherheitsrisiko“, denke ich und merke, dass meine Konzentration auf Wanderschaft gegangen ist. Zum Glück setzt sich der Zug jetzt ratternd in Bewegung, und die Unruhe meines Sitznachbarn geht in den Vibrationen unter, die die Fahrt auf den Gleisen mit sich bringt.

Die beiden jungen Frauen – ihren bunten Rucksäcken nach, aus denen Collegeblöcke ragen, wahrscheinlich Schülerinnen oder Studentinnen – unterhalten sich, die Blicke auf ihre Smartphones gerichtet, über Sinn und Unsinn von Snapchat, gelegentlich unterbrochen von gemeinsamem Kichern. Ich gehe am Notebook meine Notizen durch und entscheide mich, als erstes Fallbeispiel ein Virtual Reality-Reiseportal zu beschreiben. Dazu will ich noch schnell einen Blick auf das Pressematerial werfen und klicke auf den notierten Link. Hätte ich das mal früher getan: Von Lemgo bis Lage bekomme ich fast immer eine schnelle mobile Internetverbindung, jenseits von Lage und bis hinter Oerlinghausen reduziert sich die Datenrate aber auf Kriechgeschwindigkeit. Während nach und nach, quälend langsam die Rudimente einer Website auf dem Display erscheinen, zaubert mir die Erinnerung das Pfeifen und Sirren meines alten Modems aus CompuServe-Zeiten ins Ohr.

Minuten später fasse ich die gefundenen Informationen in einen mehr oder weniger wohlgesetzten Absatz. Mein Sitznachbar seufzt, ruckelt für ein paar Sekunden noch kräftiger als bisher, und, das fällt mir jetzt erst auf, starrt unverhohlen auf meinen Bildschirm. Mir fällt die Radiowerbung ein, in der ein Geldinstitut seinen Kunden empfiehlt, Fahrten in vollen Zügen für „ganz entspanntes“ Online-Banking zu nutzen.

Mein heutiger Sitznachbar ist nicht der erste, der sich derart dreist dafür interessiert, was auf meinem Bildschirm vorgeht. Mitunter warte ich in solchen Situationen einen unbeobachteten Moment ab, rufe die Website Geektyper auf, und simuliere eine Interpol-Abfrage oder den Start einiger Nuklearraketen. Heute ziehe ich es vor, weiter an meinem Beitrag zu arbeiten – den Verfassungsschutz oder den BND alarmiert ja ohnehin wieder keiner.

Die Hölle, das sind die anderen

„Noch jemand zugestiegen?“ – Die Mitarbeiterin der Bahnlinie ist wieder da, besieht sich die Fahrscheine meiner Mitreisenden. Als die junge Frau, die mir direkt gegenüber sitzt, ihr Ticket vorzeigt, steigt die Körperspannung der Kontrolleurin spürbar an, ihre Augenlider verengen sich und ihre Mundwinkel werden zu perfekten Waagerechten. „Sie wissen, dass das als Schwarzfahren gilt?“, sagt sie, halb als Frage, halb als Feststellung. Dann fordert sie „Zeigen Sie mal Ihren Personalausweis. Ich nehme Ihre Daten auf.“ Die junge Frau, inzwischen leicht errötet, sitzt für einen Atemzug mit offenem Mund da, dann fragt sie

„Wieso, was ist los? Das ist mein Monatsticket! Das hat mir die Uni gegeben. Das ist doch gültig!“

„Das ist nicht gültig“, beharrt die Kontrolleurin, „Sie haben den Fahrschein laminiert, und damit wird er ungültig.“

Tatsächlich verbietet das Kleingedruckte in den Beförderungsbedingungen fast jeder Bahnlinie das Laminieren von Fahrscheinen, weil sie unter einer Folie deutlich schwerer als Fälschung zu erkennen sind. Die Chance, ein solches Verbot nicht zu kennen, ist dennoch relativ hoch. Die Studentin argumentiert, sie habe nichts davon gewusst, andere Kontrolleure hätten das eingeschweißte Ticket bislang nicht beanstandet, und außerdem sei es doch unnütz, ein Ticket zu fälschen, das sie ohnehin von der Uni bekomme. Die Kontrolleurin beharrt auf den Personalien, gibt aber einen Fußbreit nach: „Gehen Sie mit dem Fahrausweis in Bielefeld zum Bahnschalter und fragen Sie, ob man Ihnen dort einen Ersatzschein ausstellen kann! Vielleicht machen die das, dann haben Sie nochmal Glück. Aber tun Sie das heute noch!“

„Ich habe mal in Barcelona gelebt, drei Jahre lang!“, höre ich eine Männerstimme von schräg rechts hinter mir, „Wart ihr schon mal in Barcelona?“ Offenbar sitzt der Barcelona-Kenner im Sichtfeld der beiden jungen Frauen, denn sie blicken in die Richtung, aus der Stimme zu kommen scheint, und beide verneinen zaghaft. „Müsst ihr mal hin“, setzt er seinen Monolog fort, „da gibt’s Schuhe. Also, Schuhe gibt’s hier ja auch, aber da gibt’s die Schuhe, die hier erst in ein, zwei Jahren auf den Markt kommen. Und billig. Sonst ist Barcelona ja nicht so billig, aber wenn ihr mal neue Schuhe kaufen wollt, unbedingt Barcelona.“

Am nächsten Halt steigen eine Frau und zwei Männer zu, die augenscheinlich zusammen gehören. Einer der Männer und die Frau schieben je ein Fahrrad in den Fahrgastraum, der andere Mann trägt in der rechten Hand eine Plastikeinkaufstasche, die dem Klimpern nach mit Glasflaschen gefüllt ist. Eine braune Glasflasche hält er auch in der linken Hand, und nimmt daraus einen kräftigen Schluck, nachdem sich die Türen hinter ihm geschlossen haben. Die Kontrolleurin, die noch im Gang steht, geht auf die drei zu und fragt nach den Fahrscheinen. Die drei präsentieren ihr ein Viererticket, das einen kleinen Schönheitsfehler aufweist: Es wurde bereits zwei Mal entwertet, einer der drei müsste also einen Fahrschein kaufen. „Geht nicht!“, sagt der Biertrinker mit Triumph in der Stimme, „Wir sind blank!“. Darauf angesprochen, dass ja auch für die Fahrräder Fahrscheine zu lösen seien, reagiert er leicht ungehalten: „Ich hab doch gesagt, wir sind blank!“ Der Mann, der das Fahrrad schiebt, versucht sein Glück mit einschmeichelndem Tonfall „Ausnahme? Bitte, bitte!“

„Das wird mir hier zu bunt!“, schimpft die Kontrolleurin und geht mit festem Schritt in den hinteren Teil das Zuges, um kurz darauf mit einem hochgewachsenen Mann mit Streetworker-Outfit zurück zu kommen. „Polizei“, stellt sich der Mann vor und zeigt den drei Zugestiegenen eine Karte, vermutlich seinen Dienstausweis. Die Kontrolleurin will mit polizeilicher Unterstützung die Personalien der drei aufnehmen. Alle drei nennen Namen und Anschriften, aber der Mann mit der Bierflasche gibt an, keinen Personalausweis dabei zu haben.

„Macht nichts, irgendein anderes Dokument genügt mir auch“, sagt der Polizist freundlich, „eine Kreditkarte oder etwas in der Art?“ Der gefragte gibt seinem Begleiter die Bierflasche und hängt den Beutel mit dem gläsernen Inhalt an einen der Fahrradlenker. Dann nestelt er eine Karte aus seiner Brieftasche.

„Hier, die ist von meiner Krankenkasse. So, wie da drauf steht, so heiße ich.“

„Also nicht so, wie Sie gerade angegeben haben?“

„Ach so, ne, so heißt mein Nachbar. Ich dachte, wegen der Post, da kommt ja bestimmt ein Einschreiben, und der ist immer zu Hause.“

Die Frau, die die beiden begleitet, hält sich die Hände vor das Gesicht und schüttelt den Kopf. Es ist nicht ganz klar, ob er sie meint, als der Biertrinker in leichter Überlautstärke intoniert „Ich bin nicht bescheuert! Ich bin nicht bescheuert!“ Den Beweis dafür bleibt er schuldig, bis die drei am nächsten Halt den Zug verlassen müssen.

Viel weiter bin ich mit meinem Bericht über virtuelle Realität im Business-Kontext nicht gekommen. Ob speziell das Reisen in der virtuellen Realität je an das in der physischen Welt heranreichen wird? Mein Sitznachbar ruckelt noch einmal kräftig, dann hebt er sich mit einem letzten Ruck aus seinem Sitz und geht in Richtung Ausstieg. Ich folge ihm, die beiden jungen Frauen nesteln noch an ihren Rucksäcken, aber der Zug endet hier, und sicher werden sie ebenfalls gleich aussteigen. Hinter mir höre ich eine Männerstimme „Schuhe, unbedingt Barcelona!“

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